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Barrikaden,- Kirchenasyl

Im Brunnenkiez, in der Buttmannstraße, war die Szene lebendig. Dort gab es mehrere besetzte Häuser, und gegenüber betrieb eine Gruppe Besetzer aus dem Studentenmilieu ein kleines Café mit dem treffenden Namen „Barrikade“. Ein Treffpunkt für den intellektuellen Aktivisten, wo Punks eher selten anzutreffen waren. Auch wenn das Café hauptsächlich Müsli im Angebot hatte, schreckte mich das nicht ab, regelmäßig vorbeizuschauen. Besonders ins Auge fiel mir dort ein Pärchen, das ich zuvor noch nie in den besetzten Häusern gesehen hatte, das jedoch fast täglich in der „Barrikade“ verkehrte.

Er war ein auffälliger Typ, mit schneeweißer Haut und weißem Haar – ein Albino, wie man ihn nur selten sieht. Sie war das genaue Gegenteil: klein, mit dichtem dunklem Haar und kräftig gebaut, gekleidet in lange Röcke und mit reichlich indigenem Schmuck geschmückt. Sie strahlte genau die Art von Stärke und Selbstbewusstsein aus, die mich auf Anhieb faszinierte. Ihre Andersartigkeit, ihre ganze skurrile Erscheinung, übten eine Anziehungskraft auf mich aus, die ich nicht ignorieren konnte. Ohne Scheu sprach ich die beiden an, und bald war das erste Eis gebrochen. Wir verstanden uns auf Anhieb, teilten ähnliche Interessen, und ich erfuhr, dass sie beide alternative Revoluzzer waren, die sich für Spiritualität begeisterten und ebenso wenig Berührungsängste mit der „Friedenspfeife“ hatten. Obwohl von der Besetzerszene angetan, wohnten sie in einer eigenen kleinen Wohnung im Wedding. Perfekt. Bald darauf besuchte ich sie in ihrer Wohnung.

Zu meinem Erstaunen gab es dort eine beeindruckende Sammlung an Friedenspfeifen, von langen Holzpfeifen bis hin zu kunstvollen Glasbongs – ein Paradies für jeden Kiffer. Die Verbindung zwischen uns wurde schnell tiefer, und es entwickelte sich eine Freundschaft, die bald mehr als nur eine Bekanntschaft war. Zwischen uns dreien entstand eine über Jahre währende, tief verwurzelte geistige und körperliche Verbindung, wobei die körperliche Anziehung für mich nur auf sie abzielte. Ihre Energie, ihre Sinnlichkeit – all das schien förmlich in der Luft zu liegen und entfaltete sich meist unter freiem Himmel, wo wir beide unserer Leidenschaft freien Lauf ließen. Doch nicht nur spirituell und körperlich waren wir auf einer Wellenlänge. Auch politisch fanden wir uns in denselben Idealen wieder, einig darüber, dass wir mehr Aufmerksamkeit für die Bewegung generieren mussten.

Während langer Gesprächsabende entwarfen wir Aktionspläne, die weit über die bisherigen Demonstrationen und Besetzungen hinausgingen. In der Hitze dieser Diskussionen reiften Ideen, die gefährlich und kompromisslos waren – die Art von Aktionen, die den Status quo wirklich herausfordern könnten. Unsere Pläne drehten sich um nächtliche Attacken auf Zielobjekte, die den kapitalistischen Geist symbolisierten oder imperialistische Ambitionen zeigten. Für uns alle war klar: Eine gerechte Gesellschaft konnte nur auf dem Fundament einer fairen Verteilung des Kapitals errichtet werden – ein Gedanke, der für jeden von uns die Basis eines menschenwürdigen Lebens war. Diese neue Radikalität, diese entschlossene Kampfbereitschaft, würde uns in den kommenden Jahren weiter zusammenschweißen, während wir uns aufmachten, die Stadt und ihre Strukturen auf unsere Weise zu verändern. Unser nächster Aktionsplan war radikal und spektakulär: brennende Blitzbarrikaden auf den großen Bezirksstraßen, die die Stadtteile verbanden. Diese Barrikaden sollten nicht nur Aufmerksamkeit erregen, sondern auch nachhaltigen Schaden auf der Straße hinterlassen. Dafür wählten wir Stellen in der Nähe von Baustellen, wo wir Material schneller und unauffälliger aufschichten konnten.

Mit Bauholz errichteten wir Straßensperren und entzündeten sie, sodass die Hitze den Asphalt aufweichte und eine komplette Sperrung notwendig wurde. Es ging uns nicht nur um den Effekt der Barrieren, sondern darum, den Dialog anzustoßen, Menschen zum Reden und Nachdenken zu bringen. Doch damit gaben wir uns längst nicht zufrieden – die Ideen in unseren Köpfen sprudelten förmlich über. In langen Nächten diskutierten wir über die gesellschaftlichen Institutionen, die für uns die Widersprüche der Stadt am stärksten verkörperten. Die Kirche, mit ihrem Einfluss und ihrem politischen Netzwerk, rückte zunehmend in unser Blickfeld. Auch sie war teils in die Spekulation um leerstehende Gebäude verstrickt, hielt sich aber, was das Thema anging, zurück. Für uns Grund genug, diese mächtige Institution zur Verantwortung zu ziehen – schließlich beanspruchte sie das Bild des Barmherzigen und Nächstenliebenden, das wir in die Wohnungsnot-Problematik einweben wollten.

Eine symbolische Aktion kam uns in den Sinn: Die Besetzung einer Kirche, und zwar jener, in der ich selbst konfirmiert worden war. Ich kannte den Pfarrer und die Räumlichkeiten, was es uns leichter machte, die Aktion genau zu planen. Über Wochen bereiteten wir uns vor, besuchten mehrere Sonntage hintereinander den Gottesdienst, um den Ablauf genau zu kennen. Wir wussten, dass alles perfekt inszeniert sein musste, wenn wir Aufsehen erregen wollten. Von der Verhaftung über mögliche Geldstrafen bis zu unvorhergesehenen Reaktionen – wir wollten jede Eventualität einberechnen. Am Morgen unserer geplanten Besetzung war alles vorbereitet. 80 Sympathisanten aus den besetzten Häusern versammelten sich draußen, um uns den Rücken freizuhalten. Wir mischten uns unter die Gläubigen und warteten, bis der Pfarrer die letzten Besucher verabschiedete. Als wir schließlich die einzigen waren, die in den Bänken zurückblieben, trat ich nach vorne und stellte mich dem Pfarrer vor. Ich erinnerte ihn an meine Konfirmation und erklärte, dass wir die Kirche nun symbolisch übernehmen würden. Etwas überrascht, aber auch bemüht, ruhig zu bleiben, bot uns der Pfarrer an, die Gemeinderäume für unsere geplante Pressekonferenz zu nutzen. Vor der Tür formierte sich währenddessen eine Schar von Polizei und Journalisten. Doch dann kam alles anders als geplant.

Eine rechtsgerichtete Jugendgruppe aus dem Bezirk hatte von der Aktion Wind bekommen und tauchte in voller Stärke auf. Schon bald kam es zu handfesten Auseinandersetzungen zwischen ihnen und unseren Sympathisanten, was der Presse natürlich eine hervorragende Story bescherte. In der Kirche wurden wir derweil nervös. Ich bat den Pfarrer, das Gebäude zu verlassen, und wir verbarrikadierten die Türen. Die Situation vor der Tür drohte zu eskalieren, und die Polizei sperrte die Zufahrtsstraßen ab. Wir waren gezwungen, rasch eine Lösung zu finden. Nach kurzer Beratung beschlossen wir, die Aktion abzubrechen. Unser Ziel, Aufmerksamkeit zu erregen, war mehr als erreicht. Niemand von uns wollte die Situation weiter eskalieren lassen oder die Kirche gefährden. In Zusammenarbeit mit dem Einsatzleiter, dem Pfarrer und der Presse gelang es uns, die Lage zu beruhigen und einen Rückzug ohne Konsequenzen zu vereinbaren. So hatten alle, was sie wollten: Die Polizei einen ruhigen Abschluss, die Presse ihre Schlagzeile, und wir unsere gewünschte Öffentlichkeit. Es war ein Sonntag, den niemand so schnell vergessen würde – ein Akt, der für Diskussionen sorgen würde, genau wie wir es wollten.


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