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Mord an der Panke

​Langeweile? Nein, die kam hier wirklich nicht auf.

Damals gab es noch die sogenannten Schülerlotsen: Schüler, die an den Straßenkreuzungen standen und quasi die Rolle einer Ampel übernahmen, denn Fußgängerampeln waren rar. Nach einem kleinen Lehrgang und einer Prüfung durch die Polizei durfte ich auch Schüler sicher über die Straße geleiten.

Einige Wochen später machte ich mich wie gewohnt auf den Weg zu meiner Kreuzung, in der Erwartung, ein wenig Spaß vor der Schule zu haben. Der Weg führte über eine Brücke an der Panke, einem kleinen Bach, entlang des Promenadenwegs, der sich quer durch den Bezirk Wedding zog. Es war früh am Morgen, und in der kühlen Dämmerung hörte ich plötzlich die Rufe eines Spaziergängers. Er befand sich auf dem Weg an der Panke und winkte mich aufgeregt heran. Vor ihm lag eine Gestalt auf dem Boden. Zunächst dachte ich, es sei seine Frau, die gestürzt war. Langsam und mit einem mulmigen Gefühl im Bauch näherte ich mich – die Szene wirkte unheimlich. Schon wieder hörte ich dieses Röcheln, das mich sofort an die letzte bewusstlose Frau erinnerte, die ich so erlebt hatte.

Der Mann rief mir zu, dass ich umkehren und die Feuerwehr alarmieren sollte, aber ich war schon so nah, dass ich kaum zurückweichen konnte. Als ich schließlich nah genug war, blieb mir der Atem weg: Ein Mann lag auf dem Boden, sein Gesicht vollkommen entstellt, wie abgeschält. Nur noch rohes Fleisch und Blut, eine Fratze, die mich mit leeren Augen ansah, während er sein letztes Röcheln ausstieß und dann verstarb. Mir drehte sich der Magen um. So schnell ich konnte, lief ich zur Straße, um Hilfe zu holen, und warnte die anderen Kinder davor, dorthin zu gehen. Den Rest des Schultages konnte ich vergessen – ich war zu nichts mehr fähig. Später erfuhr ich, dass der Mann nicht überlebt hatte, und am nächsten Tag durchkämmten Polizeiwagen mit Lautsprechern die Straßen und suchten nach Zeugen für den „Mord an der Panke“.

Ein brutales Erlebnis, das sich in meine Gedanken brannte. Doch Fritz und Emma konnten mir wie immer nicht helfen, das Erlebte zu verarbeiten. Ihre eigenen Erfahrungen, geprägt von Krieg und Verlust, ließen kaum Raum für die Leiden anderer. Der Krieg war ohnehin allgegenwärtig – auf den Straßen, im Radio, im Fernsehen. Panzer rollten regelmäßig an unserer Erdgeschosswohnung an der Panke vorbei, und ich fragte mich oft, wie das sein konnte, wenn der Krieg doch längst vorbei war. Aber Berlin war eine zerrissene Stadt, und eine „Mauer“, wie die Erwachsenen es nannten, zog sich durch die Stadt, bis an den Bezirk Wedding heran. Die Erwachsenen redeten von „Politik“, was meine Meinung über sie nicht gerade verbesserte. Wie war ich nur in so eine kaputte Welt geraten? Es schien, als sei diese Spezies Mensch nur damit beschäftigt, sich selbst zu vernichten. Ich begann, die Grausamkeit der Kriege zu begreifen: Giftgas im Ersten Weltkrieg, die industrielle Vernichtung im Zweiten, die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.

Die Maschinen des Todes bekamen sogar Namen: „Little Boy“ und „Fat Man“. Die Menschen nannten es Weltkrieg. Mir war klar, dass ich hier fehl am Platz war. Doch das Leben ging weiter, und je mehr ich heranwuchs, desto mehr Freiheiten erkämpfte ich mir. Fritz besorgte mir ein Fahrrad, und nach einer Zeit strenger Meldepflicht – alle anderthalb Stunden musste ich nach Hause – galt die Regel: „Wenn die Glocken läuten, bist du daheim.“ Das Glockenspiel der Kirche um sechs Uhr abends war unser Signal. Die Panke und ihre Parkanlagen waren unser Treffpunkt. Hier tobten wir durch die Büsche, spielten Cowboy und Indianer, verletzten uns gelegentlich, aber genossen unsere Freiheit. Unser Lieblingsort war das westliche Ende des Pankewegs, wo der Bach unter einer Brücke hindurchfloss, die seit dem Mauerbau von Stacheldraht und Eisenstäben blockiert war. Jenseits der Brücke lagen Schrebergärten, und die Panke verschwand in Richtung Osten. Für uns Kinder waren diese Orte das reinste Abenteuer.

Doch die friedliche Kinderwelt wurde bald von einem weiteren Schreckensereignis durchbrochen. Ich war gerade auf dem Heimweg zur „Meldezeit“, als ein ohrenbetäubender Knall durch die Straße hallte. Für einen Moment herrschte völlige Stille, bevor ein dumpfes Grollen und eine Staubwolke über die Straße zogen. Fritz rief, „Eine Bombe!“ und wir Kinder liefen in die Richtung des Knalls. Dort angekommen, sahen wir die Trümmer eines komplett zerstörten Quergebäudes. Der Hinterhof des Hauses lag in einem Berg aus Schutt, Balken und zertrümmerten Möbeln. Rote Flüssigkeit sickerte aus den Ritzen und zog sich über die Steine. Leise Schreie und Hilferufe drangen aus dem Trümmerhaufen, und aus einem Winkel ragte ein blutüberströmter Arm hervor. Polizei und Feuerwehr stürmten den Hof, versuchten, uns Kinder fernzuhalten, und begannen die Rettungsarbeiten. Die Stunden darauf standen wir draußen und schauten wie gebannt zu. Später erfuhren wir, dass eine Person in dem Haus die Gasleitung aufgedreht hatte, um sich das Leben zu nehmen, ohne zu ahnen, dass die Explosion das gesamte Gebäude zum Einsturz bringen und mehrere Menschen in den Tod reißen würde. Die Straßen Berlins waren wieder erfüllt von der Erinnerung an Krieg und Zerstörung. 

 

 



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